Das Corona-Paradoxon: Linksextremisten regierungstreu in der Pandemie?

Viele bayerischen Linksextremisten befürworten überwiegend die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des grassierenden Corona-Virus, fordern aber weitergehend einen Produktionsstopp bei bezahltem Urlaub für einzelne Industriezweige sowie Blockademaßnahmen und Enteignungen.

Angesichts der Corona-Pandemie sagten im vergangenen Jahr linksextremistische Szenetreffs bayernweit zuvor geplante Veranstaltungen ab. Auch angesetzte Demonstrationen aus dem linksextremistischen Spektrum wurden abgesagt bzw. verschoben. Staatlich angeordnete Maßnahmen zum Zwecke des Infektionsschutzes wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen wurden von der linksextremistischen Szene weitgehend akzeptiert. Nur vereinzelt wurde zu Protest und Regelbruch aufgerufen: „Revolte gegen Staat und Zivilisation statt freiwilliger Quarantäne“ hieß es z.B. in einer Ausgabe der anarchistischen Publikation Zündlumpen im März 2020.

Im Frühjahr 2020 begannen deutschlandweit Demonstrationen gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen. Die aktuell festzustellenden Demonstrationen, gekennzeichnet durch einen oft fanatischen Aktionismus gegen die Corona-Einschränkungen, sind Sammelbecken von Personen, die aus verschiedensten Gründen Corona-Schutzmaßnahmen ablehnen. Die Spannweite reicht dabei von Bürgern, die auf die Bedeutung ihrer Freiheiten hinweisen wollen, über Impfgegner, Esoteriker, generelle Staatsskeptiker bis hin zu Verschwörungstheoretikern. Dies zieht auch Personen an, die diese Art von Kundgebung als willkommenen Anlass betrachten, ihrer grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Stellen und des Staates insgesamt eine Bühne zu geben, und die sich damit erhoffen, auf eine gewisse Resonanz zu stoßen, die sie sonst nicht haben. So versuchen auch Rechtsextremisten sowie Reichsbürger und Selbstverwalter, sich die Corona-Krise zunutze zu machen, und beteiligen sich an entsprechenden Demonstrationen. Sie versuchen, ihren Standpunkt medienwirksam und milieuüberschreitend zu inszenieren, um so Sichtbarkeit in der Debatte insgesamt zu erzielen. Linksextremisten lehnten die Proteste von Anfang an ab. Sie verurteilten entsprechende Kundgebungen als in Gänze rechtsextremistisch und begleiteten sie kritisch in ihrer Szene-Agitation sowie mit Gegendemonstrationen.

Dies führte zu einer aus Sicht vieler Linksextremisten paradoxen Situation: Sie fanden sich plötzlich auf Seiten von Regierung und Staatsapparat wieder, die sie grundsätzlich politisch bekämpfen. Eine eigene Position, die einerseits Distanz zu den Kritikern der Infektionsschutzmaßnahmen wahrt sowie andererseits auf Abstand zu Regierung und Staat geht, konnte lange nicht gefunden werden.

Aktuell scheinen Linksextremisten einen Ausweg aus ihrem Dilemma auszumachen. Sie unterstützen offensiv die von mehreren Dutzend Wissenschaftlern, Medizinern, Künstlern und politischen Aktivisten seit Januar 2021 propagierte, nichtextremistische Kampagne „#ZeroCovid“. Danach soll zur Reduzierung der Corona-Neuinfektionsrate auf null u. a. die Arbeit in allen nicht systemkritischen Gesellschaftsbereichen kurzzeitig eingestellt werden.

Mit dieser Unterstützung nutzen Linksextremisten die Chance, typische Szene-Forderungen, die sich nicht in der „#ZeroCovid“-Kampagne wiederfinden, etwa die Enteignung von Industriebetrieben und die vollständige Verstaatlichung des Gesundheitswesens, in die Öffentlichkeit zu tragen.

Anfang Februar beteiligten sich bayerische Linksextremisten am Aktionstag „#ZeroCovidDay“. Am 5. Februar 2021 veranstalteten Aktivisten der Nürnberger Ortsgruppe der Interventionistischen Linke mehrere kleine Kundgebungen. Sie riefen am Sitz eines Nürnberger Rüstungskonzerns zu einem Produktionsstopp bei bezahltem Urlaub für alle Mitarbeiter auf. Nach dem Motto „health care not warfare“ solle der Staat seine Rüstungsausgaben in den Gesundheitssektor investieren. Am Werk eines Autozulieferers in Nürnberg wurde ein „shutdown“ verlangt. Die „nicht-systemrelevante“ und „klimaschädliche“ Automobil-Industrie müsse „blockiert“ und „enteignet“ werden. Vor aktuell leerstehenden Nürnberger Hotels wurde die Schließung von Sammelunterkünften für Asylbewerber propagiert. Diese müssten in Hotels untergebracht werden, wo ein besserer Infektionsschutz gewährleistet sei.

Diese jüngsten Aktionen in Nürnberg zeigen aus Sicht der Sicherheitsbehörden, dass sich viele bayerische Linksextremisten mit ihrem Ruf nach Verschärfung der aktuellen staatlichen Maßnahmen eindeutig gegen die Kritiker der Infektionsschutzmaßnahmen positionieren; gleichzeitig können sie so Abstand zur politischen Linie der Regierung demonstrieren.