Szene-Merkmale
Inhaltsverzeichnis
Strukturelle Charakteristika
Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist sehr heterogen. Sie setzt sich zusammen aus zahlreichen Einzelpersonen und verschiedenen Gruppierungen, die aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus der Reichsbürgerideologie anhängen. Die Anhänger der Reichsbürgerszene eint zwar die grundsätzliche Ablehnung des bundesdeutschen Staatswesens, ideologisch und organisatorisch ist die Bewegung jedoch sehr heterogen. In der Szene gibt es Geschäftemacher, Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremisten, Querulanten, Esoteriker und verschiedene Personengruppen, die untereinander konkurrieren und persönliche oder ideologische Konflikte austragen. Dies führt häufig zu Abspaltungen und Neugründungen innerhalb der Reichsbürgerszene.
Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter in Bayern ist im Wesentlichen männlich geprägt: Rund zwei Drittel der in Bayern als Angehörige der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene identifizierten Personen sind männlich. Die Altersstruktur innerhalb der Szene unterscheidet sich erheblich von der in anderen Phänomenbereichen. Während dort häufig jüngere Menschen stark vertreten sind, liegt der Schwerpunkt der Szene im Alterssegment der 40- bis 69-Jährigen, wobei hier die Gruppe der Personen zwischen 50 und 59 Jahren dominiert. Personen bis 29 Jahre sind in der Szene hingegen nur unterdurchschnittlich repräsentiert.
In Bayern sind Angehörige der Szene in den Regierungsbezirken Mittelfranken, Unterfranken und Oberbayern überdurchschnittlich vertreten.
Einige der Reichsbürger und Selbstverwalter in Bayern organisieren sich in formalen Organisationen. Die große Mehrheit ist jedoch als „Einzelkämpfer“ oder in informellen Netzwerken aktiv. Bei den meisten bislang identifizierten Reichsbürgern und Selbstverwaltern ist weiterhin kein „Organisationsbezug“ feststellbar.
Den Sicherheitsbehörden in Bayern ist es durch kontinuierliche Ermittlungsarbeit gelungen, Personenpotenzial, Strukturen und regionale Schwerpunkte weiter aufzuklären. Bis Ende 2023 lagen zu 5.406 Personen belastbare Hinweise bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene vor. Bis zu 530 Einzelpersonen gehören zum „harten Kern“, der insbesondere durch zahllose Aktivitäten gegenüber staatlichen Institutionen seine Ideologie zum Ausdruck bringt. Dem gewaltorientierten Personenpotenzial innerhalb der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene in Bayern werden derzeit rund 500 Personen zugerechnet. Dazu zählen insbesondere Einzelpersonen, die beispielsweise über Erpressungen und gewaltbefürwortende Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht haben. Das gewaltorientierte Personenpotenzial beinhaltet zugleich eine Schnittmenge zu den Einzelpersonen, die dem „harten Kern“ angehören.
Eine eindeutige Zuordnung von Angehörigen der Reichsbürger oder Selbstverwalterszene zur rechtsextremistischen Szene ist bislang nur in wenigen Fällen belegbar. Die Zahl der Reichsbürger in Bayern, die auch in rechtsextremistischen Zusammenhängen bekannt geworden sind, beläuft sich auf circa 140 Personen. Dabei handelt es sich vorwiegend um Einzelpersonen, die keinen konkreten Strukturen zugerechnet werden können und die durch ihre Aktivitäten im virtuellen Raum Ideologieelemente aus beiden Phänomenbereichen vertreten. Insbesondere bei den Themen Antisemitismus und Gebietsrevisionismus gibt es Überschneidungen zwischen Personen aus der rechtsextremistischen Szene und Reichsbürgern. So nahmen wenige Einzelpersonen aus der Reichsbürgerszene auch an Stammtischen rechtsextremistischer Gruppierungen teil beziehungsweise beteiligten sich an rechtsextremistisch geprägten digitalen Austauschplattformen. Auch zum Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates besteht in Teilen eine inhaltliche Nähe.
Die Ideologie der Reichsbürger und Selbstverwalter insgesamt ist geeignet, Personen in ein geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild zu verstricken, in dem aus Staatsverdrossenheit Staatshass werden kann. Dies kann die Grundlage für Radikalisierungsprozesse sein.
Verschiedene Vorfälle belegen, dass sich in der Szene auch gewaltbereite Personen bewegen. Gewalttaten richteten sich in aller Regel gegen staatliche Maßnahmen bzw. gegen Vertreter des Staates. Bei Einzelpersonen ist nicht auszuschließen, dass die Bereitschaft besteht, die eigene Ideologie auch unter billigender Inkaufnahme von Gewaltanwendung – ggf. auch mit Waffeneinsatz – zu verteidigen.
nach obenÜberregionale und internationale Kontakte
Personen und Gruppierungen, deren Gedankengut der deutschen Reichsbürgerszene ähnelt, gibt es auch in Österreich und in der Schweiz. In Österreich werden diese Gruppierungen „Souveräne Bewegungen“ genannt. Die Republik Österreich ist in ihren Augen ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland lediglich eine GmbH und somit kein rechtmäßiges Staatsgebilde.
Im deutschsprachigen Raum existiert somit grenzüberschreitend ein Personenkreis, den die pseudojuristische Basis seines Handelns eint und der sich insbesondere über das Internet rege austauscht. Verschiedene Plattformen im Internet ermöglichen der Reichsbürgerszene eine einfache überregionale Vernetzung.
Referenten und „Milieumanager“ der Reichsbürgerszene agieren, unabhängig von ihrem Wohnsitz, im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Vernetzung stützt sich überwiegend auf persönliche Kennverhältnisse und/oder grenzüberschreitende räumliche Nähe. Eine strukturierte Vernetzung der Gesamtszene ist derzeit nicht erkennbar und mit Blick auf die bestehenden Konflikte innerhalb der Szene auch wenig wahrscheinlich.
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