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„Self-made-Extremismus“ und neue Allianzen: Verfassungsfeindliche Szenen im Wandel

Im Verlauf der Corona-Pandemie hat sich der Extremismus weiterentwickelt und in Teilen eine neue Gestalt angenommen. Wie stellen sich die aktuellen Entwicklungen aus Sicht des Verfassungsschutzes dar?

Eine Kernaufgabe des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung verfassungsfeindlicher, extremistischer und sicherheitsgefährdender Bestrebungen. Dabei kategorisiert der Verfassungsschutz verfassungsfeindliche Bestrebungen unter Berücksichtigung ideologischer Gemeinsamkeiten und Trennlinien in Phänomenbereiche. Zu den seit Längerem unter Beobachtung stehenden Phänomenbereichen zählen Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus und auslandsbezogener Extremismus.

Aus dem gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes ergeben sich aber keine Vorgaben oder Einschränkungen hinsichtlich der konkreten ideologischen Ausrichtung zu beobachtender Bestrebungen. Maßgeblich ist ausschließlich, dass der gesetzliche Beobachtungsauftrag eröffnet ist. Dies erlaubt es den Verfassungsschutzbehörden, flexibel auf neue Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu reagieren – und dafür gegebenenfalls auch neue Phänomenbereiche einzurichten. So wurden die Phänomenbereiche der Verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit (Beobachtungsaufnahme 2012) sowie der Reichsbürger und Selbstverwalter (Beobachtungsaufnahme 2016) als Konsequenz neuer extremistischer beziehungsweise sicherheitsgefährdender Dynamiken eingerichtet.

Mit Beginn der Corona-Pandemie versuchten verschiedene Akteure, das Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu instrumentalisieren, um eine verfassungsschutzrelevante Agenda zu verfolgen. Da diese Akteure ideologisch keinem der bestehenden Phänomenbereiche zugeordnet werden konnten, richtete der Verfassungsschutz 2021 den Phänomenbereich der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ein.

Neben der Entstehung neuer verfassungsschutzrelevanter Bestrebungen, nimmt auch innerhalb der einzelnen Phänomenbereiche die Heterogenität zu. Es treten vermehrt auch Personen und Personenzusammenschlüsse auf, die Ideologieelemente verschiedener Strömungen aufweisen. Begünstigt wird diese Entwicklung durch die sozialen Medien, in denen eine Vielzahl an extremistischen oder verschwörungstheoretischen Versatzstücken verfügbar ist, die sich beliebig – und jeweils zur eigenen Lebenssituation passend – kombinieren lassen.

Insbesondere die Corona-Pandemie wirkte gemeinsam mit der gestiegenen Relevanz des virtuellen Raums für extremistische Agitation auch als Katalysator im Zusammenhang mit zwei weiteren, vielfach verwobenen Entwicklungen: Zum einen treten vermehrt Personen auf, die sich ein individuelles Weltbild aus Verschwörungstheorien und unterschiedlichen extremistischen Ideologiebausteinen erschaffen haben (Stichwort: „Self-made-Extremismus“). Zum anderen bilden sich lose verbundene und sich dynamisch verändernde Zufallsgemeinschaften über Online-Plattformen, die Extremisten und Nicht-Extremisten (zumindest temporär) vereinen.

Das zentrale Ziel dieser lose vernetzten extremistischen Milieus ist dabei überwiegend rein destruktiv: Die Agitation richtet sich gegen den demokratischen Prozess und demokratische Entscheidungsträger, eine gemeinsame Vision einer alternativen politischen und gesellschaftlichen Ordnung fehlt jedoch oftmals. Thematische Schnittmengen zwischen den extremistischen Ideologiefragmenten, aber auch vielgestaltige und teils antisemitisch gefärbte Verschwörungstheorien verstärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieser ideologische Minimalkonsens begünstigt lose und schnelllebige Strukturen, was auf eine Vielzahl von Menschen attraktiv wirken kann.

Prominentes Beispiel für eine solche, auch real-weltlich agierende, staats- und demokratiefeindliche Struktur ist die mutmaßlich terroristische Vereinigung, gegen die am 7. Dezember 2022 eine großangelegte bundesweite Razzia durchgeführt wurde. Innerhalb der Gruppe waren nicht nur Personen der Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene, sondern auch Rechtsextremisten und Anhänger der verfassungsfeindlichen Delegitimierung des Staates vertreten. Ungeachtet der unterschiedlichen Ideologiezugehörigkeiten soll das gemeinsame Ziel der Gruppe die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gewesen sein. Ähnliche ideologisch inkohärente Konstellationen sind regelmäßig auch in sozialen Netzwerken und in Messenger-Chatgruppen feststellbar.

Zuletzt ist auch nicht auszuschließen, dass sich unter Rückgriff auf zu bewältigende Krisen, allen voran die Corona-Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg, weitere solcher phänomenbereichsübergreifenden Strukturen etablieren, die im Grunde zwar einer ideologischen Vereinbarkeit entbehren, aber auf Basis einender Kritik am staatlichen Handeln einen gemeinsamen Nenner finden und extremistische Aktivitäten entfalten.

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