Jahresrückblick 2020: Rechtsextremisten in der Corona-Pandemie

„Corona-Diktatur“, „QAnon“, „Tag X“. Bayerische Rechtsextremisten reagierten 2020 rasch auf die Corona-Pandemie und versuchten, Kapital aus der gesellschaftlichen Verunsicherung zu schlagen.

Verschiedene rechtsextremistische Akteure nutzten 2020 die Corona-Pandemie und deren Folgen aus, um im Duktus ihrer üblichen Agitation Propaganda und Verschwörungstheorien zu verbreiten sowie Regierungen und staatliche Institutionen in Misskredit zu bringen. Durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien wollen Rechtsextremisten auch bei Personengruppen Gehör finden, die bislang durch offen rassistische und fremdenfeindliche Agitation nicht ansprechbar waren.

Verschwörungstheorien

Rechtsextremisten verbreiteten 2020 insbesondere Verschwörungstheorien, die Schuldzuweisungen an Asylbewerber, Migranten beziehungsweise Juden enthalten. So wurde über soziale Medien die Darstellung verbreitet, dass die Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ein Ablenkungsmanöver seien, um heimlich die Zahl der Immigranten in der EU zu erhöhen. Es würde durch die Regierung ein „neues 2015“ herbeigeführt und im Schatten der Corona-Pandemie angeblich eine große Zahl „illegaler Einwanderer“ ins Land gebracht.

Unter Schlagwörtern wie „Corona-Diktatur“ oder „Quarantäne-Diktatur“ wurde Regierungsverantwortlichen und staatlichen Stellen unterstellt, die Corona-Pandemie zur Entrechtung und Überwachung der Bürger auszunutzen. Die Identitäre Bewegung Deutschland behauptete beispielsweise am 5. April 2020 in einer Twitter-Meldung, dass die im Rahmen der staatlichen Corona-Bekämpfungsmaßnahmen verhängten Freiheitsbeschränkungen auch über die Corona-Krise hinaus aufrechterhalten werden würden.

Vereinzelt behaupteten Rechtsextremisten, das Corona-Virus sei gezielt in Umlauf gebracht worden. Es diene der Auslöschung der indigenen Bevölkerung oder der Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten und solle zur Begründung der Abschaffung von Bargeld herangezogen werden. Darüber hinaus konnte die Verbreitung von Verschwörungstheorien um den US-amerikanischen Unternehmer und Mäzen Bill Gates auch in rechtsextremistischen Kreisen festgestellt werden. So posteten beispielsweise der Bundesverband der NPD und der NPD-Kreisverband Neumarkt und Amberg Beiträge, die sich gegen die Durchführung von Zwangsimpfungen richteten, die angeblich von Bill Gates beabsichtigt würden.

„Tag-X“-Szenarien

In der rechtsextremistischen Szene wird mitunter auch zum Widerstand gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“ aufgerufen. Bezugnehmend auf das  Konzept des „Akzelerationismus“ wird dabei das Ziel verfolgt, die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Verunsicherung in der Bevölkerung für eine Radikalisierung der Gesellschaft und die Destabilisierung des politischen Systems auszunutzen. Nach diesem Konzept sind in einer Krise neben Desinformationskampagnen und Verschwörungstheorien auch Sabotage-Aktionen bis hin zu rechtsterroristisch motivierten Anschlägen hierfür geeignete Mittel.

Die Corona-Pandemie kann nach deren Auffassung somit als Gelegenheitsfenster für gewaltsame Aktionen verstanden werden, die darauf abzielen, die Demokratie in einer Phase der allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung weiter zu destabilisieren oder gar zu beseitigen. Der „Akzelerationismus“ kann auch als Begründung oder Rechtfertigung sogenannter „Tag-X-Aktionen“ genutzt werden, die darauf abzielen, einen vermeintlichen Zerfallsprozess des politischen Systems durch eigenes Handeln noch zu beschleunigen.

Verschwörungstheorie „QAnon“

Eine weitere Verschwörungstheorie, die vor allem im Rahmen der Pandemie auch von rechtsextremistischen Kreisen aufgegriffen wird, ist die aus den USA stammende „QAnon“ („Q“). Nach dieser Verschwörungstheorie führte der ehemalige US-amerikanische Präsident einen internen Krieg gegen den sogenannten Deep State (deutsch: „Tiefen Staat“). Anhänger der Theorie berufen sich dabei auf einen Informanten, der die „Q-Clearance“, d. h. die höchste Freigabestufe für geheime Informationen des US-Energieministeriums besitze. „Q“ zufolge würden Kinder im Auftrag einer aus Bankern, Politikern und Prominenten bestehenden korrupten Elite gefoltert und ermordet, um ein Lebenselixier aus ihnen zu gewinnen, das sogenannte „Adrenochrom“. „Q“ greift dabei antisemitische Verschwörungsmotive wie die angebliche Weltverschwörung einer jüdischen Finanzelite und die aus dem Mittelalter stammende antijüdisch konnotierte Ritualmordlegende auf. Mit ihren antisemitischen Elementen ist „Q“ anschlussfähig an die rechtsextremistische Szene. Die hohe Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit von „Q“ ermöglicht es dabei ihren Anhängern, aktuelle gesellschaftsrelevante Ereignisse wie die Corona-Pandemie fortlaufend im Sinne „Q“-typischer Verschwörungsnarrative umzudeuten. Ziel der Anhänger von „Q“ ist es, unliebsame politische Entscheidungsträger als Handlanger der „Weltverschwörung“ zu diskreditieren.

In digitalen Kommunikationsforen und bei realweltlichen Veranstaltungen bedienen sich „Q“-Anhänger bestimmter Symbole, Abkürzungen und Codes, um ihre Zugehörigkeit zur „Q“-Szene zu zeigen und szeneintern das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Dazu gehört beispielsweise das Kürzel „WWG1WGA“, welches für die englische Losung „Where We Go One We Go All“ (deutsch: „Dort, wohin einer geht, dorthin gehen alle“) steht. Diese Codes waren sowohl auf verschiedenen Internetforen als auch vereinzelt bei realweltlichen Veranstaltungen in Bayern 2020 festzustellen.

Teilnahme an „Corona-Demonstrationen“ in Bayern

Im gesamten Bundesgebiet fanden im Zusammenhang mit den staatlichen Beschränkungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus Protestveranstaltungen statt. Das Teilnehmerfeld erwies sich meist als heterogen und größtenteils nicht-extremistisch geprägt. Auch in Bayern beteiligten sich vereinzelt Rechtsextremisten an „Hygiene-“, „Corona-“ oder „Anti-Corona-Demos“, dokumentierten ihre Teilnahmen auf ihren Social-Media-Kanälen und versuchten, in ihren Online-Beiträgen die Kritik an den staatlichen Beschränkungsmaßnahmen für ihre eigene staats- und verfassungsfeindliche Propaganda zu instrumentalisieren. Sie erhofften sich dadurch, Anschluss an bürgerliche Corona-Debatten herzustellen und so über den eigenen Anhängerkreis hinaus zu wirken.

Ein maßgebliches Mitwirken und eine stärkere Präsenz von Rechtsextremisten bei Corona-Demonstrationen konnte in Bayern 2020 nur in Einzelfällen festgestellt werden. Dabei initiierten rechtsextremistische Akteure erfolgreich Kundgebungen und mobilisierten auch Personen, die bislang noch nicht in extremistischen Zusammenhängen aufgefallen waren. In Niederbayern organisierte das rechtsextremistische Aktionsbündnis Niederbayern über einen längeren Zeitraum kontinuierlich Veranstaltungen. Eine solche eindeutige rechtsextremistische Prägung der Proteste stellt in Bayern bislang die Ausnahme dar.

Der Nürnberger Kreisverband der NPD (NPD Nürnberg) berichtete am 18. Mai 2020 auf Facebook über seine Beteiligung an „diversen Protesten“ am 16. Mai 2020 in Nürnberg. Ebenfalls am 18. Mai 2020 veröffentlichte die NPD Nürnberg auf ihrem YouTube-Kanal ein Video mit dem Titel „Teile & Herrsche in Nürnberg // Corona-Protest am 16.05.2020“, welches sich mit dem Demonstrationsgeschehen in Nürnberg vom 16. Mai 2020 befasst. Das Video läuft unter dem Label „Nationalisten TV“, zeichnet das Bild eines angeblich unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes und schließt mit dem Aufruf: „Macht mit und unterstützt uns – nieder mit der Corona-Diktatur, nieder mit der Merkel-Regierung!“

Auch Anhänger der neonazistischen Kleinstpartei Der Dritte Weg (III. Weg) nahmen an Anti-Corona-Veranstaltungen teil: So u. a. am 16. Mai 2020 in Nürnberg an der Meistersingerhalle, an der Wöhrder Wiese und am Marienpark. Am 16. Mai 2020 und am 1. November 2020 befanden sich Mitglieder der Partei im Umfeld zweier Großdemonstrationen auf der Münchner Theresienwiese. Dort verteilten sie u. a. Flyer mit der Aufschrift „Das System ist gefährlicher als Corona“.

Teilnahme an Corona-Demonstrationen im Bundesgebiet und „Sturm auf den Reichstag“ in Berlin

Rechtsextremisten aus Bayern besuchten auch mehrere (Groß-)Demonstrationen im Bundesgebiet. Sie warben im Vorfeld für diese Veranstaltungen, veröffentlichten während ihrer Teilnahme Bilder beziehungsweise Videos in sozialen Medien und priesen den angeblichen Erfolg der Kundgebungen anschließend ebenfalls über ihre Social-Media-Accounts. Mehrere bayerische Rechtsextremisten nahmen an der Veranstaltung am 29. August 2020 in Berlin teil und inszenierten die Vorkommnisse im Rahmen der Demonstration und ihre eigene Teilnahme in den sozialen Medien in typischer propagandistischer Manier.

Größere Bedeutung für die bayerische Rechtsextremisten-Szene (und gleichermaßen für die Reichsbürger, siehe hier) hatten die außerbayerischen Veranstaltungen am 1. und 29. August 2020 in Berlin sowie am 7. November 2020 in Leipzig. Wenngleich nur eine geringe Zahl bayerischer Extremisten an diesen Großdemonstrationen teilnahm, entwickelten die Veranstaltungen innerhalb der Szene eine Signalwirkung. Die vergleichsweise große Zahl der Teilnehmer – laut Polizei 20.000 am 1. August, 38.000 am 29. August und 20.000 am 7. November – und die am 29. August 2020 entstandenen Bilder des „Reichstagssturm“ erzeugten vor allem im Nachgang eine breitere Thematisierung und Positionierung seitens verschiedener bayerischer extremistischer Akteure beziehungsweise außerbayerischer extremistischer Akteure mit Bayernrelevanz. Der vermeintliche Schulterschluss von Personen mit unterschiedlichem Milieuhintergrund und die große Anzahl von Teilnehmern wurden in der Szene als „bahnbrechende Kehrtwende“ und „wegweisend“ gedeutet.

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